Bedrohung durch Onlinehandel und Corona: Lohnt sich Retail überhaupt noch?

Bedrohung durch Onlinehandel und Corona: Lohnt sich Retail überhaupt noch?

Bedrohung durch Onlinehandel und Corona: Lohnt sich Retail überhaupt noch?

In unserem großen Retail-Interview beleuchten fünf mitteldeutsche IHKs, was für die Zukunftsfähigkeit des Einzelhandels in ihrer Region getan werden muss, und bewerten die aktuelle Lage in der Corona-Krise.

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Eigentlich sollte Retail überall dort, wo Menschen leben, arbeiten und dementsprechend konsumieren, eine sichere Investition sein. Eigentlich. Doch seit einigen Jahren greift der E-Commerce mit wachsendem Marktanteil selbst an den wirtschaftsstärksten Standorten als dunkle Bedrohung um sich und sorgt für Verunsicherung unter Investoren. Wir haben uns daher bei den Industrie- und Handelskammern Mitteldeutschlands umgehört und gefragt,  wie der stationäre Einzelhandel zukunftsfähig bleibt. Die Antworten verdeutlichen vor allem eines: Auf das Konzept kommt es an. Derweil drängt sich angesichts der aktuellen Corona-Krise akut die Frage auf, ob sich der Handel vor Ort überhaupt von diesem Schlag erholen können wird.

Mit welchen Maßnahmen kann man den Einzelhandel zukunftsfähig gestalten?

Immobilien Aktuell: Wie bleibt die Assetklasse Retail in Ihrer Region zukunftsfähig?

Christoph Adler (Handelsexperte IHK Ostthüringen zu Gera): Die Digitalisierung der Branche kann und soll nicht verhindert werden. Vielmehr gilt es für den Einzelhandel mit der Veränderung umzugehen. Der Einzelhandel muss eine Symbiose zwischen stationärem Angebot und Online-Präsenz schaffen – ein Cross-Channel-Modell. Dazu sollte der stationäre Handel auf seine Stärken setzen und diese mit neugewonnenen Möglichkeiten verbinden – das heißt persönliche Beratung, besondere Atmosphäre und Nähe zum einen, digitale Erreichbarkeit zum anderen.

Beispiele sind Local Inventory Ads (Anzeigen zur lokalen Produktverfügbarkeit im Umkreis der Konsumenten über Suchmaschinen), um die Online-Sichtbarkeit des Ladengeschäfts zu erhöhen, digitale Shop-Begleiter (via App einen Einkaufszettel erstellen, gefundene Produkte mit dem Smartphone einscannen und in der Einkaufsliste abhaken, einen Barcode zum schnellen Bezahlen des Einkaufs generieren) und vollintegrierte Bezahlsysteme (Kassensoftware aus der Cloud zur Abwicklung von Bestellungen, Reservierungen und Bezahlungen sowie für das Lieferantenmanagement und die Personalplanung).

Hans-Joachim Wunderlich (Hauptgeschäftsführer IHK Chemnitz): Um den Einzelhandel in der Region zukunftsfähig zu gestalten, gibt es ein ganzes Maßnahmenbündel. Einige ausgewählte Möglichkeiten sind beispielsweise Maßnahmen des Freistaates Sachsen wie die Überarbeitung des Ladenöffnungsgesetzes, um eine rechtssichere Ladenöffnung an vier Sonntagen ohne Anlassbezug sicherzustellen.

Maßnahmen der Kommunen wären: Erarbeitung, Beschluss, Einhaltung und regelmäßige Aktualisierung von Einzelhandelskonzepten in Abstimmung mit den Unternehmen vor Ort; Erreichbarkeit der Innenstädte und zentralen Versorgungsbereiche nicht nur für Radfahrer und Fußgänger sowie mit dem ÖPNV sicherstellen, sondern auch für den PKW-Kunden inklusive kostengünstigem Parkraum; Ordnung, Sicherheit und Sauberkeit als Basics garantieren; Stärkung von Ambiente, Atmosphäre und Flair; Aufenthaltsqualität und -dauer erhöhen durch WLAN oder Sitzmöglichkeiten; Alleinstellungmerkmale der Kommune finden, stärken und vermarkten.

Maßnahmen der Unternehmen wären: Integration intelligenter Multichannel-Strategien; Ausbau der Service-, Beratungs- und Erlebnisqualität; Kooperation und gemeinsame Vermarktung des Standortes; Nutzung digitaler Möglichkeiten nicht nur im unmittelbaren Verkauf, sondern auf allen Ebenen des Unternehmens.

Rolf Lay (Vizepräsident IHK Magdeburg / Vorsitzender des IHK-Handelsausschusses): Um Kunden mit innovativen Serviceleistungen von sich zu überzeugen, brauchen Handelsunternehmen den Zugang zu digitalen Lösungen. Die größten Hemmnisse auf diesem Weg stellen aktuell technische Einschränkungen dar, wie beispielsweise die Breitbandabdeckung und die Datenqualität in den Unternehmen. Darüber hinaus gibt es große unternehmensinterne Barrieren, wie beispielsweise mangelnde personelle und finanzielle Ressourcen. Mit dem neuen Ausbildungsberuf Kaufleute im E-Commerce, der zum Ausbildungsjahr 2018/2019 erstmals ausgebildet werden durfte, sowie der 2019 eingeführten Fortbildung zum Fachwirt/ Fachwirtin im E-Commerce bereiten Handelsunternehmen ihre Mitarbeiter auf die gestiegenen Anforderungen vor.

Eine bedeutende Rolle spielt ebenso die zukünftige Ausrichtung der Stadtentwicklung. Ein positives Einkaufserlebnis ist eng verknüpft mit einer angenehmen Atmosphäre am Handelsstandort. Soll der Handel vor Ort erhalten bleiben, sind Kommunen in der Pflicht, für den Stadtumbau und das Stadtmarketing anspruchsvolle Visionen zu entwickeln und umzusetzen. Besondere Events sind bei einem erlebnisorientierten Einkaufsverhalten, wie es jetzt zu beobachten ist, unverzichtbar. Damit der Handel mit seinen Veranstaltungen auch zukünftig Besucher in die Städte ziehen kann, muss die Genehmigungspraxis für maximal vier Sonntagsöffnungen im Jahr reformiert und rechtssicher werden.

Dr. Thomas Hofmann (Hauptgeschäftsführer der IHK zu Leipzig): Ein bedeutender Erfolgsfaktor ist die sinnvolle Verzahnung der Online- und Offlinekanäle, die nicht nur eine Option für die großen Handelsketten ist. Auch kleinere Händler mit klassischem Ladengeschäft reagieren auf das sich verändernde Konsumverhalten und investieren in neue Geschäftsmodelle und Vertriebswege. Im IHK-Bezirk Leipzig nutzt aktuell etwa jeder dritte Einzelhändler digitale Vertriebsformen, weitere 15 Prozent wollen kurz- und mittelfristig entsprechende Maßnahmen ergreifen, wie eine Befragung unter unseren Mitgliedsunternehmen ergeben hat. Viele stationäre Händler sehen im Onlinegeschäft auch neue Chancen.

Dirk Fromberger (Handel | Stadtentwicklung IHK Erfurt): Stationärer Handel muss Multichannel ausgerichtet werden und sich auf seine Stärken besinnen. Grundsätzlich hat er immer seine Berechtigung. Der Beweis: Selbst ursprünglich reine Online-Anbieter eröffnen Shops in Innenstädten und nutzen die Vorzüge des stationären Handels – individueller Kundenservice, Kauferlebnis und haptische Produkterfahrung. Leerstand muss mit klugen Konzepten begegnet werden, damit auch bei sinkender Magnetwirkung des Einzelhandels Innenstädte attraktiv bleiben. Gastronomie kompensiert und gewinnt an Bedeutung, braucht aber flankierende Maßnahmen.

Beispiele dafür wären die Verdichtung der Innenstädte mit Wohnen oder Handwerk, eine Rückkehr der Manufakturen zurück in die Innenstädte oder temporäre Nutzungen des Leerstandes durch Popup-Stores, Vereine oder Anwohner. Besonders wichtig ist, die Identität der Innenstädte zu stärken durch einen attraktiven Mix aus Shopping, Gastronomie, Kunst, Kultur und Events (selbst auch Sport). Die Menschen müssen zusammengebracht werden – Stichwort: sozialer Zusammenhalt und Heimatgefühl!

Retail angesichts der Corona-Krise

Immobilien Aktuell: Bisher schien die größte Bedrohung des stationären Einzelhandels im Onlinehandel zu liegen. Nun tritt mit der Corona-Pandemie plötzlich eine ungleich destruktivere Kraft auf den Plan. Wie hoch ist der Schaden durch die Krise in Ihrer Region?

Christoph Adler: Die IHK Ostthüringen zu Gera hat Anfang März 2020 die Mitgliedsunternehmen zu den wirtschaftlichen Auswirkungen des Coronavirus befragt. Demnach erwartet jeder zweite Ostthüringer Betrieb Umsatzrückgänge durch das Virus. Ein Drittel rechnet sogar mit erheblichen Einbußen von mehr als zehn Prozent. Risiken für die Geschäftstätigkeit sehen die Unternehmen insbesondere durch einen Rückgang der Nachfrage durch Krankheitsausfälle sowie die Absage von Messen und Veranstaltungen.

Jedes fünfte Unternehmen befürchtet zudem fehlende Waren und Dienstleistungen, wobei Lieferschwierigkeiten vor allem aus China erwartet werden. Durch die seitdem ergriffenen politischen Maßnahmen (Verfügung von Verkaufsstellenschließungen, Ausgangsbeschränkungen) wird sich die Höhe des erlittenen und noch bevorstehenden Schadens für viele Unternehmen weiter erhöhen. Besonders hart trifft es natürlich aktuell Gastronomie, Tourismus, Einzelhandel, Dienstleistungen und den Veranstaltungsbereich. Hier gibt es oft nicht die nötigen Rücklagen, um Schließungen auf unbestimmte Zeit durchzustehen.

Hans-Joachim Wunderlich: Der Schaden im Einzelhandel der Region lässt sich verlässlich erst nach Ende der Corona-Pandemie beziffern, er dürfte aber sehr hoch sein. Bereits vor den nun angelaufenen Einschränkungen war der Umsatz in einigen Bereichen rückläufig. Seit dem 19.03.2020 (bis Mitte Mai 2020) waren bis auf Ausnahmen nahezu alle Einzelhandelsgeschäfte geschlossen. Dies führt zum Totalausfall der Umsätze bei den geschlossenen Betrieben, der in Zukunft dort nur zum Teil wieder aufgeholt werden kann.

Ein Teil dieses entfallenden Umsatzes wird zumindest bei den dringend benötigten Produkten in den Onlinehandel oder zu den in SB-Warenhäusern und Discountern angebotenen Non-Food-Produktbereichen abwandern. Die Lebensmittelhändler und Drogerien verzeichnen dagegen derzeit deutlich erhöhte Umsätze, die durchaus im zweistelligen Prozentbereich angesiedelt sind. Allerdings muss man auch hier relativieren: Durch „Hamsterkäufe“ erworbene langlebige Produkte werden nach der Krise weniger nachgefragt, so dass dieser Umsatz nur vorgezogen wurde.

Rolf Lay: Wir gehen davon aus, dass der stationäre Einzelhandel auch künftig das Stadtbild prägen wird. Über den Umfang von Umsatzausfällen, Gewinneinbußen und so weiter können wir derzeit keine Angaben machen.

Dr. Thomas Hofmann: Die Corona-Krise trifft den Einzelhandel in unserer Region mit großer Härte. Der Schaden ist in seiner Gesamtheit kaum zu beziffern. Im IHK-Bezirk Leipzig sind gut 70 Prozent der Läden von den angeordneten Schließungen zur Eindämmung der Pandemie betroffen. Die Betriebskosten für Miete und Versicherungen laufen für diese Läden aber trotzdem weiter.

Dirk Fromberger: Zum gegenwärtigen Zeitpunkt kann man leider noch keine dieser Fragen seriös beantworten. Die gesamte Bundesrepublik steht vor einer bislang einzigartigen Herausforderung, die keinerlei Analogieschlüsse zulässt. Wir gehen davon aus, dass jetzt in der ganzen Bundesrepublik, ob auf politischer Ebene oder draußen auf der Straße, alle Menschen ein Bewusstsein für den Ernst der Lage entwickelt haben und somit gemeinsam maximale Kräfte mobilisieren, um Deutschland mit geringstmöglichen Verlusten und Schäden aus der Krise zu führen.

Kann man den Einzelhandel von Corona kurieren?

Immobilien Aktuell: Wird sich der stationäre Einzelhandel von diesem Schlag überhaupt erholen können? Werden die von der Bundesregierung zur Verfügung gestellten Mittel zur Rettung ausreichen? 

Christoph Adler: Im Vorteil sind jetzt vor allem jene, die bereits über einen Online-Shop verfügen beziehungsweise alternative Möglichkeiten der Kundenkommunikation geschaffen haben. Denn die Annahme von Bestellungen – etwa per E-Mail, Internetseite, Telefon oder Messenger – ebenso wie der Lieferservice sind weiter möglich.

Kreativ sein ist jetzt und künftig ein Muss. Viele haben kreative Wege gefunden, um weiterhin für ihre Kunden da zu sein: Restaurants verschicken beispielsweise Kochkisten, lokale Buchhändler bieten Lesestoff zur Abholung an. Die lokalen Unternehmer stecken also den Kopf nicht in den Sand, sondern beweisen Initiative und Kreativität, um durch die Krise zu kommen. Somit ist die Krise zugleich eine Chance, Neues zu erproben. Das verdient unsere volle Unterstützung. Die angeordnete Schließung des Ladens bedeutet nicht automatisch die Einstellung des Geschäftes. Die aufgelegten Soforthilfe-Programme von Bund und Land helfen betroffenen Unternehmen zumindest bei der Überbrückung akuter Liquiditätsengpässe.

Hans-Joachim Wunderlich: Je nach Dauer der Einschränkungen steht zu befürchten, dass nicht alle Unternehmen die Krise meistern. Es ist daher wichtig, dass umfassende Unterstützungsmaßnahmen von Bund und Land angeboten werden. Die anfangs zur Verfügung stehenden Hilfen waren vor allem Kurzarbeitergeld und Hilfskredite. Dies allein ist jedoch speziell für die kleinen, inhabergeführten Handelsbetriebe, Gastronomen und Dienstleister oder auch Soloselbstständige nicht ausreichend. Durch intensiven Austausch, unter anderem der IHK Chemnitz mit dem Freistaat und durch den DIHK mit dem Bund, sind nunmehr Hilfspakete in Aussicht gestellt, die vor allem auf Zuschussbasis und über langfristige, zinsfreie und anfangs tilgungsfreie Soforthilfen den Unternehmen praktische Hilfe zuteilwerden lassen.

Dr. Thomas Hofmann: Wenn jetzt nicht sehr schnell geholfen wird, droht in unseren Städten eine Pleitewelle in nicht gekanntem Ausmaß. Das muss in jedem Fall verhindert werden. Denn in der jetzigen Krise zeigt sich ja auch die große Bedeutung des stationären Handels, nicht nur mit Blick auf die Grundversorgung der Menschen, sondern auch für das öffentliche Leben, das durch das Schließen der Läden fast völlig zum Erliegen kam. Es muss jetzt alles getan werden, dass vor allem die kleinen Händler durch diese Krise kommen und eine Perspektive haben. Hier brauchen wir jetzt unbürokratische direkte Hilfen, auch in Form von nicht rückzahlbaren Zuschüssen, um die enormen Umsatzausfälle abzufedern und Liquidität aufrechtzuerhalten.

Unser Aufmacherfoto, im Uhrzeigersinn, beginnend links oben:
Dirk Fromberger (Handel | Stadtentwicklung IHK Erfurt), Quelle: IHK Erfurt;
Dr. Thomas Hofmann (Hauptgeschäftsführer der IHK zu Leipzig), Quelle: IHK zu Leipzig / Lutz Zimmermann;
Rolf Lay (Vizepräsident IHK Magdeburg / Vorsitzender des IHK-Handelsausschusses), Quelle: IHK Magdeburg;
Hans-Joachim Wunderlich (Hauptgeschäftsführer IHK Chemnitz), Quelle: IHK Chemnitz / Thoralf Lippmann;
Christoph Adler (Handelsexperte IHK  Ostthüringen zu Gera), Quelle: IHK Ostthüringen zu Gera;
Closed, Quelle: digital designer auf Pixabay

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