„Pflege ist längst Alltag, aber das Angebot hinkt hinterher“

„Pflege ist längst Alltag, aber das Angebot hinkt hinterher“

„Pflege ist längst Alltag, aber das Angebot hinkt hinterher“
Quelle: Immotiss

Der Markt für Senioren- und Pflegeimmobilien steht weiterhin unter erheblichem Druck. Der demografische Wandel ist eindeutig: Die Altersgruppe über 67 Jahre wächst bis 2035 um rund vier Millionen Menschen. Gleichzeitig stagniert der Ausbau neuer Pflege- und Betreuungsplätze.

Agentur

Hohe Bau- und Finanzierungskosten sowie Unsicherheiten in der Betreiberlandschaft bremsen die Projektpipeline. Parallel dazu verändert sich die Nachfragequalität. Die Babyboomer-Generation erwartet ein selbstbestimmtes, serviceorientiertes Leben mit sozialer Einbindung und digitaler Infrastruktur. „Pflege ist längst Alltag, jeder fünfte Mensch in Deutschland hat täglich damit zu tun“, sagt Jochen Zeeh, geschäftsführender Gesellschafter der IMMOTISS GmbH. Gemeint sind pflegebedürftige Menschen, beruflich Pflegende und Angehörige, deren Zahl zusammengenommen bei etwa 15 Millionen liegt.

Nach aktuellen Auswertungen gibt es in Deutschland 10.850 Pflegeeinrichtungen mit insgesamt 895.300 Plätzen. Das Angebot deckt etwa acht Prozent der über 65-Jährigen ab. „Wir haben eine Versorgungslücke von rund 400.000 Einheiten“, erläutert Jochen Zeeh. Dazu zählen stationäre Pflegeheime ebenso wie ambulante Pflegeimmobilien und betreute Wohnformen. Die Betreiberlandschaft ist stark fragmentiert: Die größten 110 Betreiber vereinen lediglich 38 Prozent aller Einrichtungen, während 31 Prozent der Betreiber nicht mehr als zwei Häuser führen. „In diesen kleinen Strukturen fehlen oft die Mittel, um Modernisierung und Qualitätsanpassungen überhaupt leisten zu können“, so Jochen Zeeh.

Die Kostenstruktur verschärft die Lage. Bei Pflegegrad 3 entfallen 63,46 Prozent der Gesamtkosten auf die pflegerischen Leistungen, 22,36 Prozent auf Unterkunft und Verpflegung und 14,18 Prozent auf Investitionskosten. Gleichzeitig ist der Gebäudebestand stark überaltert: 18 Prozent der Einrichtungen stammen aus der Zeit bis 1970, 41 Prozent aus den Jahren 1971 bis 1990, 26 Prozent aus der Phase zwischen 1991 und 2010. Nur zehn Prozent wurden zwischen 2011 und 2020 errichtet, fünf Prozent ab 2021. Jochen Zeeh fasst zusammen: „Ein wesentlicher Teil der Gebäude ist weder technisch noch konzeptionell für die Bedürfnisse der kommenden Generation ausgelegt.“

Auch die Pflegebedürftigkeit verändert sich deutlich nach Alterskohorten. Unter 60 Jahren benötigen 2,86 Prozent der Menschen Pflegeleistungen, unter 65 Jahren 4,26 Prozent, unter 70 Jahren 6,56 Prozent, unter 75 Jahren 10,69 Prozent. Ab 80 Jahren steigt der Anteil auf 18,04 Prozent, ab 85 Jahren auf 31,52 Prozent. Unter 90 Jahren gelten 58,34 Prozent eines Jahrganges als pflegebedürftig, unter 95 Jahren 73,6 Prozent, ab 95 Jahren 94,75 Prozent. Die Konsequenz: Viele Menschen bleiben lange fit und unabhängig, doch geeignete Wohnangebote fehlen. „Wir brauchen Lösungen für das lange, selbstständige Alter und nicht erst für den Pflegefall“, so Jochen Zeeh.

Im Segment Seniorenwohnen zeigt sich eine ähnliche Dynamik. In Deutschland leben 19.826.000 Menschen in der Altersgruppe ab 55 Jahren, doch es existieren lediglich 15.700 Einrichtungen mit 582.400 Wohnungen. Viele ältere Menschen finden keine Wohnform, die ihren Ansprüchen an Lebensstil, Alltag und Service gerecht wird. „Das bestehende Angebot ist quantitativ zu gering und qualitativ zu wenig differenziert“, sagt Jochen Zeeh.

Svetoslav Markov, Geschäftsführer der Humanika Unternehmensgruppe, beschreibt einen Markt in Transformation. „Die Nachkriegsgeneration tritt langsam ab, die Boomer kommen und haben völlig andere Erwartungen.“ Die Nachfrage nach zeitgemäßen, digital unterstützten und flexibel buchbaren Dienstleistungen nehme stark zu, das Angebot hingegen wachse nicht schnell genug. „Wir sehen lange Wartelisten für moderne Projekte, aber wenig Bewegung im Baualter der Bestände.“ Zugleich werde öffentlich gefördertes Wohnen stärker diskutiert, um Mieten auf ortsübliche Vergleichsmieten zu begrenzen.

Im Seniorenwohnen bewegen sich die durchschnittlichen Kaltmieten bei 13,90 Euro pro Quadratmeter im betreuten Wohnen, bei 17,00 Euro im klassischen Seniorenwohnen und bei 14,20 Euro in betreibergebundenen Wohnformen. 59 Prozent aller Einrichtungen werden von privaten Trägern geführt, 37 Prozent von frei-gemeinnützigen, vier Prozent von kommunalen Trägern. Zwei Drittel der Anlagen verfügen über mehr als 100 Wohnungen, ein struktureller Hinweis auf Skalendruck und Professionalisierung.

Für institutionelle Investoren zeichnet sich ein klarer Trend ab. „Die klassischen Säulen lösen sich langsam auf, wohnungsnahe Konzepte werden bevorzugt“, sagt Michael Eisenmann, Geschäftsführer der Real Blue Kapitalverwaltungs-GmbH. Die Erwartungen seien präziser geworden, ESG stärker im Fokus. „Fünf Prozent Rendite sind grundsätzlich möglich, aber nur mit Fördermitteln. Grundstückspreise und Baukosten lassen ohne Unterstützung keine wirtschaftlichen Konzepte zu.“ Henric Hahr, Bereichsleiter Portfolio Management bei Real Blue, ergänzt: „Wir sehen seit zwei Jahren einen starken Turn hin zu serviceorientierten und betreuten Wohnformen. In urbanen Räumen ist der Trend klar, im ländlichen Raum entwickelt er sich langsamer.“ Kleinere Einheiten erleichterten die Bezahlbarkeit, hochwertige Gemeinschaftsflächen seien entscheidend für Akzeptanz und Lebensqualität. „Die regionale Kaufkraft bestimmt am Ende, welche Konzepte funktionieren.“Die Nachfrage steigt schneller als das Angebot, die Erwartungen verändern sich, und ein großer Teil des Bestands ist nicht auf die kommenden Jahrzehnte ausgelegt. „Pflege ist längst Alltag, aber das Angebot hinkt hinterher und genau darin liegt die Aufgabe der nächsten Jahre“, so Jochen Zeeh.