„Zentrale Fragen derzeit: Was ist ein realistischer Marktwert?“

„Zentrale Fragen derzeit: Was ist ein realistischer Marktwert?“

„Zentrale Fragen derzeit: Was ist ein realistischer Marktwert?“

Im Interview mit IMMOBILIEN AKTUELL geben Tobias Martin und Wolfgang Schmidt, Geschäftsführer der Bewertungsboutique WertSicht, zu diesem Thema ausführlich Auskunft. Es geht um neue Perspektiven in der Bewertung, andere Konstellationen, Controlling und Stranded Assets.

IMMOBILÉROS - Der Podcast für die Immobilienbranche

IMMOBILIEN AKTUELL (IA): Abwertung ist in der Immobilienbranche das Wort des Jahres 2024, die goldenen Zeiten der Vorjahre haben ein paar Dinge verschleiert. Was ist aus Ihrer Sicht die größte Erkenntnis aus der aktuellen Marktlage?

Wolfgang Schmidt (WS): Wir sehen Realismus statt Euphorie, es gibt wieder eine Basis. Aus meiner Sicht ist es aber wichtig, dass Abwertungen nicht nur als negative Begleiterscheinungen gesehen werden, sondern eine Basis für neue Transaktionen darstellen. Mit den hohen Preisen war das ja nicht mehr möglich. Abwertung ist eine Korrektur von Marktwerten, Bewertungen wurden durch hohe Zinsen übertrieben positiv beeinflusst

IA: Aber es ist doch nun auch nicht alles wunderbar, oder?

WS: Nein, natürlich nicht. In den Boomzeiten wurde der Unterschied zwischen ‚guten‘ und ‚schlechten‘ Projektentwicklern verschleiert, denn auch schwache Projekte in schwachen Lagen konnten profitabel sein. Auf Bewertungsseite würde ich nicht von Verschleierung sprechen.

IA: WertSicht hatte als Kernzielgruppe Projektentwickler. Jetzt kommen eher die Banken zu Ihnen, richtig?

Tobias Martin (TM): Ja, die Banken kommen zunehmend auf uns zu – aber wir verstehen uns weiterhin als Bindeglied zwischen allen Beteiligten. Ursprünglich lag unser Fokus auf der Zusammenarbeit mit Projektentwicklern. Inzwischen begleiten wir jedoch verstärkt auch Banken, insbesondere bei Projekten, die ins Stocken geraten sind. Oft handelt es sich dabei um Objekte, bei denen der Rohbau steht, aber für den Innenausbau das Kapital fehlt. In der Hochphase wurden Finanzierungslücken häufig mit teurem Mezzaninkapital geschlossen – heute suchen Banken nach realistisch handelbaren Lösungen, um Nachfinanzierungen zu strukturieren oder überhaupt eine saubere Bestandsaufnahme zu machen. Gerade bei Non-Performing Loans ist unsere Rolle gefragt, weil viele Institute ihre Workout-Abteilungen in den letzten Jahren zurückgefahren haben. Wir verstehen uns daher auch als Kompetenzzentrum für genau diese Schnittstelle – zwischen technischer Einschätzung, Marktverständnis und wirtschaftlicher Machbarkeit.

IA: Welche neuen Akteure – etwa Bestandshalter, Distressed-Investoren, Family Offices – gewinnen aktuell als Auftraggeber an Gewicht?

WS: Es sind weniger völlig neue Akteure, die jetzt auf den Plan treten – vielmehr beobachten wir, dass bestehende Marktteilnehmer mit neuen Perspektiven und einer veränderten Risikowahrnehmung agieren. Die Strategien von vor fünf Jahren funktionieren heute nicht mehr eins zu eins. Besonders Kreditinstitute treten verstärkt in den Vordergrund, etwa wenn es um die Aufarbeitung von Altlasten oder die Vermeidung neuer Risiken geht. Nach einem außergewöhnlich langen Zyklus von rund 13 Jahren, in dem Banken und Projektentwickler eng und erfolgreich zusammengearbeitet haben, wird nun genauer hingeschaut – Vertrauen allein reicht nicht mehr, Controlling wird wichtiger. Wir sehen außerdem, dass Family Offices und institutionelle Investoren vermehrt Opportunitätsfonds aufsetzen und Kapital bündeln – mit dem klaren Auftrag, gezielt in herausfordernde Situationen zu investieren. Auch hier unterstützen wir mit Mittelverwendungskontrollen und fundierter Projektanalyse.

IA: Es ist oft die Rede von Projekten in Schieflage. Wie schätzen Sie die Situation ein?

TM: Tatsächlich sehen wir aktuell vermehrt Projekte, die unter Druck geraten sind – aber das betrifft nicht nur einzelne Vorhaben, sondern oft auch umfassende Portfolio-Bereinigungen. Manche Assets stehen kurz davor, zu Stranded Assets zu werden – das gilt nicht nur für Gebäude, sondern auch für unentwickelte Grundstücke. Was neu ist: Investoren und Kreditgeber wollen heute frühzeitig Businesspläne und Stellungnahmen, um besser auf Verhandlungen vorbereitet zu sein. Diese Form der vorausschauenden Analyse war in der Vergangenheit selten so gefragt. Gleichzeitig sehen wir Opportunitätsfonds, die gezielt auf solche Situationen setzen. Sie verfolgen Value-Add-Strategien und suchen in einem veränderten Marktumfeld nach neuen Renditequellen. Es geht nicht nur um das Management von Risiken, sondern zunehmend auch wieder um das Erkennen von Chancen.

IA: Marktberichte gibt es von allen möglichen Anbietern in verschiedenen Formen. Sie bieten das für Fonds an. Was ist die Besonderheit?

WS: Unsere Marktberichte richten sich gezielt an Fonds und konzentrieren sich auf spezielle Themen und Nischen, die in klassischen Analysen oft zu kurz kommen – etwa Infrastrukturimmobilien, Medical Offices oder die Auswirkungen von Zinsanpassungen und Erbbaurechten. Wir generieren die Informationen nicht selbst, sondern verarbeiten vorhandenes, qualifiziertes Material und ordnen es praxisnah ein. Der Mehrwert entsteht durch unsere Nähe zum Markt und zu den Projektentwicklern: Wir wissen, welche Themen in der aktuellen Phase wirklich relevant sind, und können gezielt fundierte, anwendungsorientierte Einordnungen liefern. Das macht unsere Reports für viele Fonds zu einem wertvollen Instrument in der strategischen Entscheidungsfindung.

IA: Wenn ein Markt sich so ändert, ergeben sich ja häufig andere Muster, andere Fragestellungen. Welche sind das für Sie?

TM: Eine der zentralen Fragen ist derzeit: Was ist ein realistischer Marktwert? Es gibt kaum Transaktionen, auf denen sich Preise verlässlich ableiten lassen. Gerade bei Notverkäufen stellt sich die Frage, ob die aufgerufenen Preise tragfähig sind – oder ob sie nur aus der Not entstehen. Ein weiteres Thema sind die Preisvorstellungen der Verkäufer. Viele müssen aktuell nicht verkaufen und hoffen auf eine Markterholung. In manchen Segmenten – etwa im Wohnbereich – sehen wir tatsächlich erste Zeichen einer Bodenbildung und sogar wieder Preissteigerungen. Im Bürosegment ist die Lage deutlich komplexer. Auslaufende Miet- und Kreditverträge treffen auf veränderte Nachfrage, neue Regulierungen und steigende Anforderungen der Banken. Gleichzeitig spielen weiche Faktoren wie New Work und künstliche Intelligenz eine immer größere Rolle bei der Standortwahl. Wir erleben hier ein klassisches Henne-Ei-Problem: Die Bank finanziert nur, wenn ein Mieter da ist – der Mieter möchte aber bei Mietvertragsunterzeichnung nicht mehrere Jahre bis zum Einzug warten, wenn die Fläche existiert. Diese Dynamiken bestimmen derzeit viele unserer Gespräche.

IA: Welche Bewertungsansätze stoßen aktuell besonders an ihre Grenzen?

WS: Der Bodenrichtwert ist derzeit besonders kritisch zu betrachten. Er basiert oft auf großen Zonen mit Durchschnittswerten, deren Zustandekommen in der Rückschau kaum nachvollziehbar ist – vor allem bei zeitlicher Verzögerung. In der Praxis entfaltet er aber eine hohe Relevanz, obwohl er auf bebaute Grundstücke kaum übertragbar ist. Dass in einer großen Zone der Sackgassenlage am Waldrand denselben Wert haben soll wie das Eckgrundstück an der Hauptstraße, wird der Realität nicht gerecht. Auch der Ertragswert stößt zunehmend an Grenzen. Durch die Besonderheit der getrennten Verzinsungszeiträume von Grundstück und Gebäude in der deutschen Bewertungspraxis kommt dem Bodenwert oft eine zu hohe Bedeutung zu. Wir sehen daher einen hohen Beratungsbedarf. Viele Banken, die in der Boomphase mit marktwertbasierten Bewertungen gearbeitet haben, tun sich nun schwer mit der Neubewertung – insbesondere unter regulatorischen Anforderungen. Das klassische Paradigma der risikofreien Projektentwicklung ist passé. Deshalb versuchen wir, verschiedene Bewertungsmethoden zu kombinieren und realistischere, marktnähere Ansätze zu etablieren, die heutigen Unsicherheiten besser Rechnung tragen.

IA: Inwieweit rücken Szenarien wie Bestandsoptimierung, Teilumnutzung oder „Ertragswert unter Restrukturierungsbedingungen“ stärker in den Fokus?

TM: Diese Szenarien gewinnen stark an Bedeutung, vor allem im Umgang mit sogenannten Stranded Assets. Deren Marktwert sinkt – gleichzeitig können sie unter bestimmten Voraussetzungen zu Chancen werden. Aber: Man muss sehr genau hinsehen, was machbar ist. Wir begleiten solche Prozesse aktiv und arbeiten dabei auch mit spezialisierten Partnern wie Tech-Dienstleistern zusammen, etwa um zu prüfen, ob ein Objekt sich beispielsweise für Pflege oder kleinteilige Vermietung eignet. Ein zentrales Thema ist der Sanierungsfahrplan – nicht nur für Investoren, sondern auch für Mieter. Wann muss die Fassade gemacht werden? Welche Investitionen stehen in fünf Jahren an? Für welche Zielgruppe entwickle ich das Objekt weiter? Solche Fragen strukturieren wir und fassen sie in einen belastbaren Businessplan. Wir agieren hier als koordinierende Instanz, als „Flaschenhals“, durch den alle Informationen laufen. Gerade bei Büroimmobilien sehen wir viele Objekte mit auslaufenden Mietverträgen, etwa Single-Tenant-Nutzungen, die zur tickenden Zeitbombe werden können. Hier stellen wir Fragen zur Drittverwendungsfähigkeit, zur Eignung für kleinere Mieteinheiten – und suchen gemeinsam mit Eigentümern nach Perspektiven.

IA: Heißt das immer noch, dass Eigentümer sich zu spät Gedanken machen?

TM: Ja, viele machen sich diese Gedanken zu spät. Unser Ziel ist es, frühzeitig proaktiv zu beraten – auch mit dem Ziel, Assets so zu positionieren, dass sie etwa für Opportunitätsinvestoren mit Cashflow-Potenzial attraktiv sind. Wer heute vorausschauend handelt, kann auch mit vermeintlichen Problemobjekten wieder Wert schaffen.

IA: Was bedeutet dies für Ihre Methodik und Ihre Gutachtenqualität?

WS: Die klassischen Wertermittlungsverfahren stoßen in der aktuellen Marktlage oft an ihre Grenzen. Deshalb arbeiten wir zunehmend mit szenariobasierten Modellen, Potenzialbewertungen und simulationsgestützten Ansätzen. Dabei geht es nicht nur darum, den Status quo zu bewerten, sondern vor allem auch um die Frage: Wie kann sich ein Objekt unter bestimmten Annahmen entwickeln? Das erfordert einen höheren methodischen Aufwand, bringt aber auch eine deutlich höhere Aussagekraft. Wir verlassen bewusst starre Bewertungslogiken und integrieren verschiedene Variablen, um realistische Entwicklungspfade aufzuzeigen – gerade bei herausfordernden Objekten mit Restrukturierungsbedarf. Oft sind wir auch in Gesprächen mit Verwaltungen eingebunden, etwa wenn es um rechtliche Auslegungen oder um faire Verhandlungen mit Städten geht. In solchen Fällen übernehmen wir auch eine moderierende Rolle. Dabei stellen wir zum Beispiel Angemessenheitsberechnungen auf, um die Linie zu finden, die für alle Beteiligten tragbar ist. Unser Ziel ist eine gut begründete, belastbare und zukunftsorientierte Bewertungsgrundlage.

IA: Seit wann gibt es WertSicht? Was muss man noch zu dem Unternehmen wissen?

TM: WertSicht gibt es seit 2021. Die Gründungsidee entstand mitten in der Pandemie – ganz pragmatisch: Ich habe Wolfgang, der mir als absoluter Spezialist empfohlen wurde, übers Internet kontaktiert, wir haben uns bei Starbucks einen Kaffee geholt und saßen kurz darauf gemeinsam am Rechner im bereits vorhandenen Büro. Die Philosophie hat sofort gepasst. Trotz des noch jungen Unternehmens haben wir Erfahrung mit Marktzyklen – wir kennen das Auf und Ab, auch aus früheren Stationen, und wissen, wie man agiert, wenn der Markt schwächelt. WertSicht ist bundesweit tätig, möchte aber künftig auch in der Region – insbesondere rund um Leipzig – stärker wachsen. Dafür suchen wir aktuell auch neue Mitarbeitende. Die Branche ist fordernd, aber auch stabil: Bewertende Experten werden immer gebraucht – gerade in unsicheren Marktphasen.

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