Beim wirtschaftspolitischen Empfang des Handelsverbandes Sachsen e.?V. wird deutlich: Der Einzelhandel in Sachsen steht vor einer Reihe tiefgreifender Herausforderungen – und ist zugleich unverzichtbarer Bestandteil gesellschaftlicher Stabilität und urbaner Lebensqualität.
Zwischen Bürokratielasten, Digitalisierung, Personalnot und schleichender Verödung der Innenstädte formulieren im Plenarsaal des Sächsischen Landtages Vertreter aus Politik, Verband und Unternehmen klare Erwartungen – und einen eindringlichen Appell an die Politik. Zuerst wirbt Alexander Dierks, Präsident des Sächsischen Landtages, gleich zu Beginn für eine Rückbesinnung auf den politischen Grundwert des Kompromisses: „Ich würde mir wünschen, dass wir Kompromisse aus der Schmuddelecke holen – wir brauchen sie.“ Gerade in einer Zeit gesellschaftlicher Polarisierung brauche es politische Verständigungsbereitschaft, um tragfähige Lösungen für komplexe Themen wie Handel, Stadtentwicklung und Fachkräftesicherung zu ermöglichen.
Systemrelevant – und doch übersehen
Dabei ist die ökonomische und soziale Bedeutung des Handels enorm: Mit 130.000 Beschäftigten, einem Jahresumsatz von 27 Milliarden Euro und 15 Prozent Anteil am Bruttoinlandsprodukt ist die Branche die drittstärkste in Sachsen, bildet zudem etwa 6.000 Azubis aus. Dennoch gerät sie laut Alexander Dierks oft aus dem Blick – zu kleinteilig, zu selbstverständlich der tägliche Kontakt mit Kunden. Und doch sei es gerade diese Alltäglichkeit, die den Handel zum Seismografen für gesellschaftliche Stimmungslagen mache, zu einem Anker – vor allem in mittleren und kleinen Städten.
Lebensader Innenstadt
Björn Keyser, Vizepräsident des Handelsverbandes Sachsen und Betreiber mehrerer REWE-Märkte, erinnert an die zentrale Rolle des Handels für die Innenstädte – insbesondere in kleineren Kommunen: „Ohne Handel verschwinden Marktplätze, digitale Marktplätze sind ganz anders.“ Der stationäre Einzelhandel sei weit mehr als ein Ort des Konsums – er schaffe soziale Begegnungsräume, halte einen großen Teil der Wertschöpfung in der Region und sei Anker für lokales Engagement. Sponsoring von Vereinen, Unterstützung von Schulen und kommunalpolitische Verantwortung gehörten zum Selbstverständnis vieler inhabergeführter Geschäfte. „Was hier geleistet wird, passiert aus Heimatliebe“, so Björn Keyser. Allerdings gebe es kein Pauschalkonzept, es brauche große Individualität.
Digitalisierung, Fachkräftemangel und Demographie
Gleichzeitig sieht sich die Branche mit langfristigen strukturellen Problemen konfrontiert. Die Bevölkerung in Sachsen schrumpft weiter – wenn auch regional unterschiedlich. Der Fachkräftemangel spitzt sich zu, besonders im ländlichen Raum. „Mehr Hände könnten mehr erwirtschaften – aber diese Hände werden wir nicht haben“, so Björn Keyser. „Wir müssen dem Entgegensehen und uns auch fragen, welche Zuwendungen in Zukunft noch gezahlt werden sollen, sozial und kulturell.“ Doch auch die Digitalisierung birgt Hürden: Smartstores ohne Personal könnten Versorgungslücken in abgelegenen Regionen schließen, machen Umsatz, wenn alles andere bereits geschlossen hat. Doch rechtliche Unsicherheit, insbesondere im Ladenschlussgesetz, verhindert bislang Investitionen in dieses Modell.
Mit Blick auf die kommunale Verpackungssteuer findet Björn Keyser klare Worte: ein „Bürokratiemonster“, das keine lenkende Wirkung entfalte, aber für kleine Händler enorme Belastungen mit sich bringe. Auch das Thema Warendiebstahl beschäftigt die Branche zunehmend. Die Verluste gehen jährlich in den sechsstelligen Bereich, viele Händler investieren in höhere Sicherheit. Gleichzeitig verlaufen Anzeigen häufig im Sand. „Nach einem Jahr wird das Verfahren eingestellt – wegen Geringfügigkeit“, kritisiert er. Die Folge: ein massiver Vertrauensverlust in die Durchsetzung staatlicher Ordnung. „Ich habe dafür kein Verständnis. Es muss möglich sein, dass es beschleunigte Verfahren bei geringen Werten mit einem Abschluss gibt.“
Prof. Dr. Timm Homann, Vizepräsident des Handelsverbandes Deutschland (HDE) und CEO der Ernsting’s family Unternehmensgruppe, bringt in seinem Beitrag die Systemlogik des Handels auf den Punkt. Handelsunternehmen seien lebende Systeme mit eigener Dynamik, geprägt von gegenseitiger Wechselwirkung mit anderen gesellschaftlichen Systemen, wie Familien, Städten, Unternehmen, Institutionen. „Systeme werden nicht von außen zerstört, sondern von innen – wenn sie nicht lernen, sich anzupassen.“ Als Unternehmer mit 2.000 Filialen, aber auch als Soziologe formuliert Timm Homann drei Grundregeln für wirtschaftlichen Erfolg: konkrete Leistungen ermöglichen, Zielkonflikte kreativ lösen und Strukturen hinterfragen, die sich im Konkretheitsgrad verlieren. Jeder Unternehmer wolle für sein Unternehmen das Baste rausholen, vollkommen normal.
Die Ernsting’s family Unternehmensgruppe ist ein Familienunternehmen mit etwa 1,5 Milliarden Euro Umsatz, in Deutschland, den Niederlanden und Österreich präsent. Flache Hierarchien, direkt und ohne Dünkel funktioniere die Firma. „Es gibt keine Stabsstellen bei uns, ich esse wie alle anderen in der Kantine und bringe meiner Assistentin einen Kaffee mit.“ Seine klare Botschaft an die Politik: „Ich erwarte keine Geschenke, sondern Verständnis für unsere Realität.“ Die Politik verweise immer wieder auf dicke Bretter, die zu bohren sind. „Komplexität ist immer das Resultat von vorher nicht konkret gelösten Aufgaben, von falsch getroffenen Entscheidungen.“ Das mache auch vor Innenstädten und dem Handel nicht halt.
Einzelhandel unter Druck: Handelsverband fordert klare Signale der Landespolitik
Die Herausforderungen des Handels sind strukturell und komplex – und sie sind nicht neu. Der Handelsverband Sachsen (HVS) legt dazu Zahlen vor: Eine aktuelle Konjunkturumfrage unter mehr als 1.000 kleinen und mittelständischen Einzelhändlern im Freistaat offenbart eine angespannte Lage. Nur rund ein Viertel der befragten Unternehmen beurteilt die aktuelle Geschäftslage als gut – der Großteil sieht sich mit stagnierenden oder rückläufigen Umsätzen, hoher Kostenbelastung und sinkender Kundenfrequenz konfrontiert. Fast jedes zweite Unternehmen bewertet die Ertragslage als schlecht, bei mehr als der Hälfte sind die Umsätze im Jahresvergleich gesunken.
Auch die Erwartungen an die kommenden Monate bleiben gedämpft: Weniger als 20 Prozent der Händler hoffen auf eine Verbesserung, knapp 50 Prozent rechnen mit einer weiteren Verschlechterung. Insbesondere die Kaufzurückhaltung, steigende Arbeits- und Energiekosten sowie zunehmende Bürokratie werden als zentrale Risiken genannt. Investitionen in Personal sind rar – jedes dritte Unternehmen plant sogar Stellenabbau.
Die Forderungen an die Landespolitik liegen auf der Hand: Es brauche gezielte Entlastungen, verlässliche Rahmenbedingungen und wieder mehr Zuversicht – insbesondere für den sächsischen Mittelstand, der als Rückgrat der Wirtschaft dringend Unterstützung benötige. Kritik wurde geplanten Kürzungen bestehender Förderprogramme sowie zusätzlichen Regulierungen für Arbeitgeber geübt. Ein weiteres drängendes Problem: die massive Zunahme von Ladendiebstahl. Der wirtschaftliche Schaden für die Branche geht in die Millionen, die Unternehmen beklagen eine nachlassende Strafverfolgung und fordern klare gesetzliche Signale zur Eigentumssicherung. Auch die Nachwirkungen der Corona-Pandemie belasten weiterhin: Viele Händler kämpfen mit der Rückzahlung pandemiebedingter Kredite, was in Kombination mit der aktuellen Kostenbelastung die Liquidität deutlich einschränkt.
Schließlich sieht der Verband in der Stabilisierung der Innenstädte eine zentrale Aufgabe. Fehlende Aufenthaltsqualität, unzureichende Erreichbarkeit und städtebauliche Defizite gefährden aus Sicht des HVS den Handel als Versorgungsanker vor Ort. Ohne gezielte Maßnahmen und Investitionsanreize drohe der weitere Niedergang vieler Stadtzentren – mit gravierenden Folgen für die gesamte Standortqualität.